Das „virtuelle Publikum“ früher und heute

von Maximilian Staude

Nach einigen Jahren Internet ist Ernüchterung eingekehrt: Anstelle von postmoderner Harmonie herrscht im Kommentarbereich der Massenmedien eher der Grabenkrieg. Zum Jahresende hatte die Friedrich-Ebert-Stiftung nach München zu einer Bestandsaufnahme eingeladen. Moderiert von der freien Journalistin Juliane Leopold trafen der Kommunikationswissenschaftler Andreas Vogel und Daniel Wüllner, Teamleiter Social-Media bei der Süddeutschen Zeitung, zur Diskussion aufeinander.

Die mit dem Web 2.0 verbundenen Träume vom allseits interessierten und informationssuchenden Nutzer?

Eine Illusion, stellte Andreas Vogel trocken fest. „In Wirklichkeit ist man immer auf denselben Seiten“. Und kommentieren würde zu bestimmten Themen nur ein kleiner aktiver Kern.
Auch früher hatte eine Zeitung, führte der Forscher weiter auf, ein „virtuelles Publikum“, das sich aber, außer z.B. durch das Leserbriefschreiben nicht manifestieren konnte. Mit den „Communities“ sei dies nun anders.
Am Anfang hätten die Redaktionen wohl geglaubt, durch weitreichende Kommentarmöglichkeiten auf einfachem Wege Diskurs und Klicks zu erzeugen. Das Publikum dagegen dachte, endlich mal ungebremst Dampf ablassen zu können. Einige Menschen, so Vogel weiter, hätten dabei vergessen, dass diese „computergenerierten Kommunikationsräume“ nicht mehr privat sind, auch wenn man in den eigenen vier Wänden vor dem Rechner sitzt. Außerdem zeige sich schlicht ein Skaleneffekt: Im realen Leben gehe man den „verrückten Nachbarn“ aus dem Weg, im Internet sei das gleichwohl schwerer. Unterschätzt habe die Medienbranche gleichsam, trotz Warnungen, die organisierte Hetze durch die politische Rechte.
Das Ergebnis heute: Registrierungszwang, Abonnentenexklusivität, Begrenzungen bei Zeichenanzahl und Uhrzeiten, Netiquetten und Moderatoren.

Daniel Wüllner schilderte seinerseits, wie er 2007 bei der „Süddeutschen“ ursprünglich damit angefangen hatte, Redakteuren das Freischalten von Kommentaren abzunehmen. Nach Baumstrukturen, Bewertungssystemen und einem Extra-Leser-Café folgte dann vor zwei Jahren der radikale Einschnitt: Heute  kann man auf süddeutsche.de pro Tag nur zu drei von der Redaktion festgelegten Themen diskutieren. Um diese zu finden, muss man auf der Startseite herunter scrollen.
Anders hätte man die vielen parallel laufenden Kommentarstränge zu den sich ja auch stetig aktualisierenden Artikeln nicht mehr bewältigen können. Die auch auf Facebook geposteten SZ-Artikel könnten dort dagegen weiterhin individuell kommentiert werden.

Ein Vorgehen, dass Moderatorin Juliane Leopold nicht durchgehen lassen wollte:
Sei es nicht verlogen, die eigene Webseite so restriktiv zu handhaben, dann aber auf Facebook das „Getümmel“ zuzulassen? Füttere man damit nicht als Zeitung nicht denjenigen, der einen abzuschaffen drohe?

Es handle sich um eine Abwägungsentscheidung, antwortete Wüllner, Facebook sei eben heutzutage der „größte Platz, wo sich Medien tummeln.“
„Diskutieren Sie mit“, heiße der Aufruf der Journalisten – die Kommentarbetreuung werde dann aber „geoutsourct“ und der Redakteur froh, dass er damit nichts mehr zu tun haben muss, stellte Vogel  spöttisch fest.
Wüllner verteidigte sich: Die Moderatoren der „Süddeutschen“ säßen mit am Redaktionstisch und diskutierten mit. Wenn sich die Leserdiskussion um Fachfragen ginge, müsse der Journalist ohnehin einbezogen werden. Dass beim britischen Guardian ein Journalist ab 50 Kommentaren unter seinem Artikel sich an der Diskussion beteiligen müsse, sei keine schlechte Idee.

Nun, was kann der Online-Leser überhaupt selbst tun?

Zivilcourage zeigen, Kommentare melden, sich konstruktiv beteiligen – darin waren sich die Diskutanten einig. „Wenn einer am Stammtisch in der Kneipe auftauchen und rumkrakelen würde, würde man den doch rauswerfen“, deklarierte Vogel. Wüllner zeigte sich frustriert über das Verhalten von Facebook. Gemeldete Hetzkommentare passten schlicht nicht in das Muster des Konzerns, während dagegen Werbung oder „Geschlechtsteile“ sofort gelöscht würden.
Immerhin zeigten sich beide optimistisch, was die zukünftige Identifizierung von Bots zum Beispiel für Propaganda-Kommentare angehe. Die großen Medien arbeiteten mit Wissenschaftlern zusammen an entsprechenden technischen Innovationen. Wenn in zehn Jahren alle Daten allerdings in den USA gehostet werden, anstatt im eigenen Server im Keller, werde er, so Vogel, lieber offline Kajak fahren und fischen gehen.

 

Foto: Flickr by Quinn Dombrowski (CC BY-SA 2.0) – changes are made (oberer Schriftzug übermalt)