Flüchtlings(krisen)berichterstattung: die „guten“ Klischees

Sonntag, früher Nachmittag, Berlin, Alexanderplatz. Mit einem BVG-Plan in der Hand marschiert er durch den Bahnhof. Am Ausgang hält er an, wirft den riesigen Rucksack auf die Erde und versucht sich zu orientieren.

„Excuse me…“, spricht er vorbeieilende Menschen an, doch keiner achtet auf ihn.
„Yes?“, antworte ich.

Er stottert. Dieses Mal auf Französisch erklärt er mir, dass er nach einem Hotel suche. Im ersten Moment hatte ich ihn für einen Touristen gehalten: strahlend weißes T-Shirt, perfekt saubere Markensneakers und der unvermeidliche Rucksack. Doch dann zeigt er mir den Zettel von der Erstaufnahmestelle: Er soll in einem Hotel unterkommen, bis sein Flüchtlingsstatus geklärt wird.

Im Alltag nehmen wir Dinge wahr, ohne sie zu hinterfragen:

(Markenschuhe + BVG-Plan + Alexanderplatz) x Fremdsprache = ausländischer Tourist = wohlhabend = ungefährlich = sympathisch

Solche Interpretationen passieren automatisch in unseren Köpfen. Doch diese Interpretationsmuster sind nicht natürlich oder selbstverständlich, sie werden erlernt und jeden Tag in unterschiedlichen Situationen neu bestätigt. Dafür sind Beispiele und Geschichten, die in den Massenmedien auftauchen, sehr wichtig. Denn als Medienkonsumenten sind wir nicht bloß neutrale Beobachter (Zuschauer oder Leser), sondern wir „erleben“ die Geschichten mit, bewerten sie aus unserer Perspektive, lernen neue Sachen und festigen die schon bestehenden (Vor-)Urteile.

Im Großen und Ganzen gilt die Medienberichterstattung fast als eine Art „Erziehung für Erwachsene“. Und dazu gehören auch die Berichte über Flüchtlinge.

Der „gute“ Flüchtling ist meistens ein Jugendlicher, eine (Haus-)Frau oder ein Kind. Er (oder sie) ist ein Opfer der Umstände: der bösen Regierung, des gewalttätigen Ehemanns, der verantwortungslosen Eltern usw. Der „gute“ Flüchtling ist gut, weil er harmlos ist. Er gibt uns das Gefühl, stark zu sein, weil wir die Macht haben, ihm (oder ihr) zu helfen. Der gute Flüchtling ist gut, weil er uns die Möglichkeit gibt, selbst gute Menschen zu sein.

Der „schlechte“ Flüchtling ist oft männlich, und das nicht nur in Bezug auf sein Geschlecht, sondern vor allem wegen seines Auftretens. Er ist aggressiv, tendiert zu gewalttätigem Verhalten und ist bereit, die Regeln zu brechen, um sich durchzusetzen. Der „böse“ Flüchtling ist böse, weil er gefährlich ist. Nicht nur für seine Mitmenschen, sondern in erster Linie für das Weiterbestehen der Regeln.

Der „nützliche“ Flüchtling ist weiblich oder männlich. Er oder sie ist gut gebildet, fleißig und bereit, sofort einen Job anzufangen. Darauf freut sich die ganze auf frische Arbeitskraft hungrige Wirtschaft und wir alle werden ruhig schlafen, sobald der tüchtige ausländische Arbeiter seinen Asylantrag genehmigt bekommt…

Und was nun?
Natürlich war das alles etwas übertrieben. Doch das ändert nichts an der Tatsache, dass Medienberichterstattung über Flüchtlinge sehr wichtig ist. Und auch nichts daran, dass dies eine schwierige Sache ist. Es geht schließlich um eine große, unübersichtliche und heterogene Masse an Menschen, die – anhand der Berichterstattung – dem deutschen Medienkonsumenten vertraut gemacht werden sollte. Umso wichtiger ist es sowohl bei der Medienproduktion, als auch bei der Medienkonsumption kritisch und offen für unterschiedliche Perspektiven zu bleiben.

Genau darüber möchten wir auf der diesjährigen LiMA reden!
Mathias Hamann, Journalist und Leiter eines Berliner Erstaufnahmeheims wird am 24. September 2015 (11:00 Uhr) über seine täglichen Erfahrungen mit Flüchtlingen und über seine Wahrnehmung von Medienberichten erzählen und im Anschluss daran mit Euch diskutieren. Wie geht man als Journalist heran? Wie kann man sich mit den Berichten kritisch auseinandersetzen? Gibt es überhaupt einen richtigen Weg? Und wenn nicht… was dann? Kommt zur LiMA und macht kostenfrei mit!