von Christian Baron
Wer morgens mit der Bahn zur Arbeit fährt, erblickt überall Menschen mit vornüber hängenden Köpfen. Die wenigsten von ihnen dösen vor sich hin. Vielmehr tippt und wischt fast jeder über die Bildschirme seines Smartphones, Tablets oder E-Readers. Eine klassische, gedruckte Zeitung raschelt kaum mehr durch die gedrungenen Räume großstädtischer Nahverkehrsmittel. Das ist ein echtes Problem, weil es den meisten Medienmachern noch nicht gelungen ist, mit digitalen Inhalten rentabel zu arbeiten.
Wirklich neu ist das nicht. Und doch tun sich die Medien schwer, Erklärungen für den steten Niedergang des Printproduktes und dabei besonders der Tageszeitung zu finden – von Mitteln, diesen Trend zu stoppen, ganz zu schweigen.
Es war also ein ambitioniertes Unterfangen, den ersten Tag der „Linken Medienakademie“ an der Berliner Humboldt-Universität am Montag dem Thema „Medien im Umbruch“ zu widmen. Schon der Titel des ersten Blocks war eine klare Ansage: „Die Tageszeitung ist tot! Es lebe die Wochen- und Monatszeitung?“ LiMA-Geschäftsführer Jörg Staude entschied sich für „diesen etwas reißerischen Titel, um die Debatte zu befördern“. Für die Diskussion hatte er sich drei Gesprächspartner aufs Podium geholt, die ihre je eigene Meinung zum provokanten Veranstaltungstitel kundtun sollten.
Michael Angele, Mitglied der Chefredaktion der Wochenzeitung „Der Freitag“, erklärte gleich zu Beginn, wer heute unabhängigen Qualitätsjournalismus machen wolle, müsse „ein hohes Maß an Engagement und damit auch an Selbstausbeutung an den Tag legen“. In seinem Haus, das sich überwiegend aus den derzeit rund 15.000 Vollabos finanziere, sei es nicht möglich, den vollen Tarif zu zahlen. Dieses Schicksal teile sein Medium mit vielen Tageszeitungen. Ganz anders sieht es dagegen bei den „Blättern für deutsche und internationale Politik“ aus. Laut Redaktionsmitglied Daniel Leisegang erhalten die Redakteure einen Tariflohn.
Der dritte in der Runde, Uwe Kraus von der lokalen Monatszeitschrift „Harzzeit“, konnte dies zwar nicht von sich behaupten, stellte aber einen entscheidenden Unterschied in der Bezahlung der freien Mitarbeiter fest: „Wir zahlen mehr Honorar als eine Tageszeitung, aber das ist heutzutage leider kein Kunststück.“
Kraus sieht klare Schuldige für den Niedergang: „Wir haben keine Krise des Journalismus, sondern eine Krise der Verlage. Sie haben in den 1990er Jahren ohne jede Strategie ihre Inhalte kostenfrei ins Netz gestellt. Das war eine fatale Entscheidung, für die sie heute die Quittung erhalten.“
Als Leisegang als Lösungsansatz dafür eine Lanze für Online-Dienste wie „Blendle“ brach, die einzelne Artikel aus verschiedenen Medien verkaufen, regte sich Widerspruch bei Michael Angele: „Solche Formate machen das Prinzip der Zeitung kaputt. Eine Zeitung ist mehr als die Summe ihrer Artikel. Zeitungslesen ist auch ein ästhetisches, ein haptisches Erlebnis.“ Er plädierte stattdessen dafür, Online und Print so zu verzahnen, „dass Redaktion und Community auf Augenhöhe miteinander kommunizieren“, wie es der „Freitag“ seit einigen Jahren mache – mit einem Erfolg, der sich auch auf das Print-Produkt auswirke, dessen Auflage kontinuierlich steige.
Es gehe heute darum, „eine Nische zu finden und sie zu besetzen“. So beobachtet Angele, dass viele enttäuschte „Zeit“-Leser zum „Freitag“ wechselten, weil dort ein klares linksliberales Profil zu finden sei. Ähnlich sehe es bei den akademisch ausgerichteten „Blättern“ aus, denen Leisegang eine „stabile Kernleserschaft“ bescheinigte. Glaubwürdigkeit gewinne man nicht durch Beliebigkeit, sondern durch eine klare Haltung. Gerade in Zeiten, in denen sich die Medien pauschal als „Lügenpresse“ diffamieren lassen müssten.
Genau darum ging es im zweiten Teil des Abends. Nach einem Input-Referat des Dresdener Medienwissenschaftlers Heiko Hilker zur Historie des Begriffs der „Lügenpresse“ diskutierten Daniela Dahn, Dietmar Bartsch und Sergej Lochthofen unter Moderation von Tom Strohschneider, dem Chefredakteur der Tageszeitung „Neues deutschland“, über „Medien im Umbruch 1990-2015“. Hier war es Lochthofen, der immer wieder Thesen zum Besten gab, denen die Mitdiskutanten deutlich widersprachen.
Zum Beispiel bestritt der ehemalige Chefredakteur der „Thüringer Allgemeinen“, dass der Pressefreiheit in der Bundesrepublik nach 1990 Grenzen gesetzt worden seien. Im Gegensatz zur DDR sei in der vereinigten BRD jede Redaktion „völlig souverän“. Wenn es zu Selbstzensur käme, dann sei dies niemals den Verlagen anzulasten, sondern „den Redaktionen, die kein Rückgrat haben“. Daniela Dahn, die in der DDR beim Fernsehen arbeitete und dort in den 1980er Jahren wegen fehlender Freiheiten in der Berichterstattung kündigte, sieht auch heute Mängel: „In der DDR war die Pressefreiheit durch den Staat eingeschränkt, heute ist sie es durch kommerzielle Interessen.“
Vor einiger Zeit habe etwa ein ihr gut bekannter Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“ einen Artikel des Philosophen Julian Nida-Rümelin veröffentlicht, der die einseitige Berichterstattung deutscher Massenmedien in der Ukraine-Krise anprangerte. Anschließend sei dem Redakteur intern die Hölle heiß gemacht worden. Zudem gebe es auch eine entscheidende systemische Grenze, die eine Zensur durch an wirtschaftsliberaler und standortnationalistischer Berichterstattung interessierte Verlage überflüssig mache: „Die große Mehrheit der Journalisten entstammt einem gut-bürgerlichen Elternhaus. Dass nur die Meinung dieser Schichten in den Medien vorkommt, verwundert da nicht.“
Lochthofen reagierte darauf sichtlich verärgert und bezeichnete es als „verständlich“, dass nur Menschen aus bürgerlichem Hause den Journalistenberuf ergreifen, „weil nur noch dort die Kulturtechnik des Lesens angewendet wird“. Strukturelle Zugangsbarrieren zum Job wie die durchaus übliche Auswahl der Bewerber nach einem akademisch-selbstbewussten Habitus oder die bei linken wie Mainstream-Medien gleichermaßen erschreckend schlechte Bezahlung der Volontariate ließ Lochthofen außen vor. Er teilte aber immerhin Dahns Einschätzung, dass „das deutsche Bildungssystem sozial ungerecht“ sei.
Dietmar Bartsch, heute einer der führenden Köpfe der Linkspartei, arbeitete vor und nach 1990 im Verlagsgeschäft – erst bei der „Jungen Welt“, später auch kurzzeitig beim „Neuen Deutschland“. Er brachte zum Abschluss eine staatlich finanzierte Presse nach dem Vorbild des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ins Spiel. „Das mag derzeit für Deutschland nicht der richtige Weg sein und es ist ohnehin politisch momentan nicht durchsetzbar“, erklärte er, „aber ich glaube, dass wir in den nächsten Jahren grundsätzlicher darüber werden debattieren müssen“.
Lochthofen kann dieser Idee nichts abgewinnen: „Wir müssen uns damit abfinden, dass Zeitungen sich an der Mitte orientieren und damit auch die Meinung der Mitte treffen wollen. Es gibt keine Zensur und auch fast keine Selbstzensur. Jede Zeitung ist am Kiosk verfügbar, und die Leute greifen trotz des Vorwurfs der Lügenpresse nicht zum ND, sondern zur FAZ. Das muss ja einen Grund haben.“
Kämpferisch gab sich am Ende nur mehr Daniela Dahn, die konstatierte: „Die jungen Leute lesen das ND nicht, weil sie wissen müssen, was die FAZ zu einem Thema zu sagen hat, wenn sie in dieser Gesellschaft was werden wollen.“ Das müsse man jedoch nicht hinnehmen, sondern weiter mutig gegen die Dominanz großer Konzerne im Mediengeschäft anschreiben.
Ermutigend schloss anschließend Tom Strohschneider den Abend, indem er eine aktuelle Umfrage über das Ansehen von Zeitungen zitierte, nach der „62 Prozent“ der Deutschen die Zeitung für sehr oder einigermaßen vertrauenswürdig halten. Ich halte das für eine Ermutigung. In diesem Sinne: Lesen Sie weiter, wen immer Sie wollen, aber lesen Sie!“
Christian Baron ist derzeit Volontär beim Neuen Deutschland.
Fotos: Mark Wagner (Kameradisten)